From: Christoph Niessl, niessl@mathematik.tu-muenchen.de
Subject: Wheelie und ASR mit Kardan (was: Wieviele km bis Karkasse?)
Date: Thu, 26 Mar 1998 12:38:44 +0100
Organization: [posted via] Leibniz-Rechenzentrum, Muenchen (Germany)

Steffen Hoffmeister wrote:
> 
[...]
> Tststs, da hast Du was falsch verstanden: An der Ampel zieh ich doch immer
> den kürzeren gegen Detlef. Ich bewundere immer wieder, wie er primitiv
> bollernd wegzieht (hat die RT Traktionskontrolle?).

aargh, nein hat sie nicht, aber sie hat einen KARDAN!! und dieselben
physikalischen Grundsaetze, die einen Wheelie verhindern, bewirken halt
einen erhoehten Anpressdruck am Hinterrad (Gummikuheffekt) beim
Beschleunigen.

Skizze:
             RRRRRRRRRRRRRRRRR       
         _______    FR         SP
        /       \   F R
       /         \  F  R      
      |    WWW    | F   R
      |   WWoWZ========OR
      |    WWW    |      RRRRRRRRR
       \         /
        \___A___/
SSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSS


Wir haben da laso eine schematische Zeichnung eines
Kardan-Hinterradantriebes, Das Winkelgetrieeb mit Zahnrad Z, Tellerrad
W, Kardanwelle =, und dem Federbein F. Die Hinterradachse ist ein o, das
vordere Kardangelenk das O. Wenn man also beschleunigt, drueckt das
Zahnrad Z das Tellerrad W (ich weiss, es sind beides Kegelraeder..) nach
UNTEN. Nachdem das Rad aber nicht weiter nach unten kann, dort ist
normalerweise die Strasse S zu finden, und - so das Rad eben nicht
durchdreht - ergibt sich eine gleichgrosse Gegenkraft, die die
Kardanwelle um die Radachse o nach oben drehen will, im Bild hier im
Gegenuhrzeigersinn. Das ist die Kraft, die das Hinterrad beim
Beschleunigen ebenfalls an den Boden presst - gibt die hoehere Traktion.

Ob da jetzt eine Momentabstuetzung drin ist wie bei den BMW-Paralvers,
oder eine Parallelogrammschwinge wie bei einigen Guzzis, aendert nur was
an der Ausfederung, weil die die Geometrie beeinflussen, das heisst, sie
bestimmen, wie diese Kraft in den Rahmen abgeleitet wird. im hier
gezeichneten einfachen Fall (etwa Monolever) kann sich die Kraft nur
ueber das Federbein am Rahmen abstuetzen und treibt damit das Heck sehr
stark nach oben. Bei einer Momentabstuetzung leitet die die Kraft zum
Teil weiter, das Heck federt nicht mehr so stark aus.

Deswegen hebt sich das Heck des Kardan-Mopeds beim Gasgeben. Also wird
ein Drehmoment aufgebaut, dass das Mopped um die Querachse kippen will,
und zwar vorne nach unten. Und dieses Drehmoment ist es auch, dass einen
Wheelie verhindert. 



                 Thema Wheelie 
              ==================
(nicht in der Kurve, und ohne Beruecksichtigung der Drehimpulse der
drehenden Teile, insbesondere dem Hinterrad, und ohne dynamische
Fahrwerkseffekte):

Wir schauen uns an was fuer Kraefte an einem Motorrad angreifen,
normalerweise sind das die Gewichtskraft G und die Motorkraft M, ueber
das Getriebe, Kette/Kardan und das Hinterrad auf die Strasse gebracht.
Dabei kann man davon ausgehen, dass die Kraefte im Schwerpunkt SP der
Zeichnng angreifen, und zwar G nach unten, und M nach hinten, logo.
Addiert man diese beiden Kraefte vektoriell, so gibt es eine
Gesamtkraft, nennen wir sie V = G + M, und jetzt kommt es darauf an, ob
dieser Gesamtvektor so aussieht, dass er hinter dem Reifenaufstandspunkt
A die Strasse beruehrt oder davor. Wenn dahinter, dann bewirkt das ein
Drehmoment, das den Schwerpunkt nach oben zieht, das Vorderteil steigt,
und das ist der Wheelie. Die Gesamtkraft zeigt halt ausserhalb der
Standflaeche, und das bewirkt ein 'Kippen'.

Warum kann das bei einem kardangetrieben Moped nun nicht gehen? recht
einfach, weil, naemlich zur Gewichtskraft G, die nach unten wirkt, auch
noch die oben diskutierte zusaetliche Anpress-Kraft B nach unten
dazukommt, wodurch V' = (B + G) + M eher nach unten als nach oben zeigt,
das heisst dann doch wieder VOR A auf die Strasse trifft, und demnach
gbt es keinen Wheelie.

Dazu ein paar quantitative Abschaetzungen: Wegen des Reibwertes von
ziemlich genau mu = 1 bei der Paarung Asphalt/Gummi, ist M vom Berag her
hoechstens so gross wie G (M <= mu * G), also zeigt V = G + M
bestenfalls um den Winkel phi <= 45 ( tan(phi) <= M/G = mu) Grad nach
hinten. 
                        M
                   <----------SP
                             /|
                            / |
                           /  |
                          /...|
                       V / phi|
                        /     |G
                       /      |
                      /       |
                    |_        V
                              |
                              |B
                              |
                              V
Aber jetzt kommt ja noch B dazu, und V' = V + B zeigt weiter nach unten,
der Winkel von V' zur Vertikalen ist also sicher kleiner als 45 Grad.
Wenn der Schwerpunkt jetzt also nicht extrem weit oben sitzt wie z.B.
bei Enduros durch lange Federwege, kann man von SP aus in der Richtung
von V' nicht HINTER A kommen, also keine Wheelies machen. Die Angabe von
45 Grad ist ziemlich realistisch, der Schwerpunkt einer Strassenmaschin
MIT Fahrer liegt in ca. 70 bis 80 cm Hoehe in der Mitte zwishen beiden
Reifen, und der Radstand ist ja im Bereich von 1.40 m bis 1.60 m;
deswegen koennen auch nur besonders starke Maschinen eine Wheelie
machen, die Soviel Leistung haben, dass sie an die Durchdrehgrenze
kommen, und z.B. eine GSF600 eben nicht, zuwenig Leistung/Drehmoment

Wie gross ist eigentlich B vom Betrag her? Naja, schauen wir uns das
Hinterrad an, Am Reifenaufstanspunkt wirkt eine Kraft M (oben haben wir
sie im Schwerpunkt angreifen lassen, aber das wird durch das quasi
starre System Schwinge/Rahmen ermoeglicht), vom Betrag etwa in der
Groessenordnung der Gewichtskraft, also ca. 3kN, direkt nach hinten,
also haben wir ein Drehmoment von ca. 3kN * 0.33m = 1000 Nm (0.33m ist
der Radius des Hinterrades), durch die Untersetzung des Getriebes kriegt
man hier mehr Drehmonent als was der Motor liefert (~100Nm). Dieses
Drehmnet wird natuerlich vom Kardanantrieb geliefert, und muss am
Zahnrad Z uebertragen werden, dort steht aber nur ein Radius von ca 10
cm zur Verfuegung (Radius des Tellerrades), also muss dort eine Kraft B
von 10kN angreifen, etwa das Dreifache von G !!! 
Damit erfuellt phi', der Winkel zwischen V' und der Vertikalen also
tan(phi') = M/(G+B) = M/(G + 3G) <= mu/4 ~ 1/4, damit phi' <= 14.04
Grad, und damit ist niemals nicht ein Wheelie moeglich. 

Was passiert im Gegensatz zum Kardan bei der Kette?

Genau das Gegenteil vom Kardan, da wird das heck zum EINfedern gebracht,
das kann ja jeder einfach beobachten, denn die Kette greift kraftmaessig
hauptsaechlich im oberen Teil vom Kettenblatt an, und ein bisschen im
hinteren, dort zieht die Kette das Kettenblatt und damit die Schwinge
nach OBEN, im Gegensatz zum Kardan. Die Kraft, die oben nach vorne
zieht, wird durch die starre Schinge kompensiert, die Kraft aus dem
hinteren Teil des Kettenblattes bewirkt eine Kraft C nach oben (im
Gegensatz zu B nach unten). Hier tritt genau der entgegengesetzte Effekt
ein wie beim Kardam, denn G + C ist vom Betrag her kleienr als G (C
zeigt in die andere Richtung als G), also wird jetzt phi'' (Winkel
zwischen Gesamtkraft und Vertikalen bei Kette oder Riemen) die
Ungleichung
tan(phi'') = M/(G+C) >  M/G  = mu ~ 1 erfuellen, damit ist phi'' sogar
groesser als 45 Grad, und man kommt von SP aus sogar leichter HINTER A,
wenn man in Richtung der Gesamtkraft geht.

Ciao Christoph, der hofft, damit endlich mal mit allen Maerchen von
Kardanwhelies aufgeraeumt zu haben!
-- 
       _/    _/_/_/   Christoph Niessl (rrr#24, wd#24, kk#3)
      _/_/  _/        aka: BigTwin (IRC-Nick)
     _/  _/_/         unterwegs auf: BMW R1100RS (ABK 4.2)
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