From: |
Michael Leye, MLEYE@Materna.DE
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Subject: |
Nach Unfall gelaehmt
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Date: |
Sun, 25 Aug 1996 09:17:45 GMT
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Organization: |
Dr. Materna GmbH, Dortmund, Germany
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Hallo heizende Gemeinde,
hier eine kurze Geschichte von mir und dem Nachbar, der bis vor kurzem genauso
gerne wie ich Motorrad gefahren ist:
Ich sah letzten Samstag aus dem Fenster meiner Wohnung im dritten Stock des
alten, im Jugendstil erbauten, Hauses, das bisher sicher schon eine ganze
Menge erlebt und mitgemacht hat. Die Luecken in der Strasse, die vom zweiten
Weltkrieg gerissen wurden, sind durch haessliche Siedlungshaeuser gestopft
worden, aber einige der Haeuser, die von der Protzigkeit ihrer Besitzer und
von der Ausbeutung der Hoesch-Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert zeugen, stehen
noch ruhig an ihrem Platz. Schicksale wird es hier schon zur Genuege gegeben
haben. Was weis ich schon davon; ich wohne seit einem dreivierteljahr in der
Wohngemeinschaft unter'm Dach und verbringe moeglichst viel Zeit damit, meine
Yamaha TDM auf freien Verkehrsbahnen zu bewegen.
Und als ich aus dem Fenster sah, da wurd' mir gar seltsam zu mute, ich glaubte
nichts anders als ob das Herz verblute. Sah ich doch wie der Nachbar aus dem
ersten Stock von zwei Zivildienstleistenden aus einem Fahrzeug gehoben und in
einen Rollstuhl gesetzt wurde. Der Nachbar, der wie ich gerne Motorrad faehrt.
Der Nachbar, der mit Freundin und Kind in der Wohnung mit Garten lebt. Der
Nachbar, der mit Anfang dreissig sicher was anderes vorhat als Rollstuhl zu
fahren. Auch in dieser Stadt ist es so, dass man ohne besonderen Kontakt zu
dem wohnlichen Umfeld lebt. Ich sage mal "Guten Tag" im vorbeigehen und muss
mir was zum Thema "Treppe putzen" anhoeren. Meine menschlichen Beziehungen
wohnen woanders. So ist das meistens. Anders ist es da schon, wenn man
Gleichgesinnte trifft. "Wie fahr' ich denn am besten nach Holland", fragt die
MR-Fahrerin aus dem Nachbarhaus - hoert sich nicht grade nach dramatischer
Streckenfuehrung, sondern nach langen graden Autobahntrassen an - ich empfehle
ihr besser in die Eifel zu fahren. Klar, kommt der Tip nicht an, wenn frau ans
Meer will. Besser ist schon die Idee, den Nachbar anzusprechen, ob er nicht
eine Garage hat, die er mit mir teilen koennte. Er hat sich schon ein bisschen
kundig gemacht. Wir vereinbaren, wenn wir was finden, an den anderen zu
denken. Wir plaudern ein bisschen ueber dies und das. Ich seh den Nachbar, der
gerne MR-faehrt und der jetzt in einem Rollstuhl sitzt, seh wie er an den
beiden auf der Strasse parkenden Motorraedern vorbeigeschoben wird, seh wie
sein Blick auf die Maschinen fällt und ich ahne nun, was ihm passiert ist.
Die erste Zeit, wenn ich durch den Hausflur gehe, ist mir recht mulmig. Was
sag ich bloss, wenn ich ihn treffe? Oder was, wenn ich seine Freundin treffe,
der das Schicksal so mitspielt? Eine froehliche Familie, die nun nicht mehr im
Haus hoerbar ist. Totenstille hinter der Wohnungtuer; ich traue mich einfach
nicht zu klingeln und meine Anteilnahme auszudruecken.
Gestern traf ich sie beide endlich auf der Strasse. Er wurde grade in den
Rolli gesetzt. Es war ganz einfach hinzugehen und zu fragen. "Was ist dir denn
passiert!". Es scheint einfach fuer ihn, darueber zu reden. Er ist so klar.
Und so bewegungslos. "Ja, Querschnittslaehmung. Bruch des 5. Rueckenwirbels.
Bei 50 Sachen hab ich mich langgemacht, mitten in der Stadt. Nein, kein
fremdverschulden, bin ungluecklich aufgekommen. War mir sofort klar, dass es
passiert ist. Ich hab es gewusst."
Vor zehn Wochen ist es in Dortmund-Benninghofen geschehen. Die Maschine sei
kaum beschaedigt, war 6 Wochen alt. Er fuhr einige Jahre einen anderen
Rennhobel. Also Erfahrung und Koennen sprechen fuer ihn. Und trotzdem ist es
passiert. Im Krankenhaus laegen viele Rueckenverletzte. Nur 5 % seien
MR-fahrer. Dass koenne dir auch schnell bei was anderem passieren. Seinen
Lebenswillen moechte ich den anderen wuenschen. Der Kopf sei ja noch beweglich
und die Arme. Ja, die Haende. Schoen waere es, wenn sie wieder zum Leben
erweckt werden koennten.
Gestern ging ich raus, packte mir Iris als Sozia auf die Karre, und wir fuhren
an die Gloertalsperre. Es musste sein. Ich will MR-fahren. Aber ich muss auf
alles gefasst sein. Wenn ich an die Tour mit Hoss, Hardy, Kristina und die
anderen waehrend der MEGAFETE im Odenwald denke, dann ist klar, dass wir
heizen, teilweise wie die Bekloppten (ich spreche hier von mir und hoffe das
die anderen mir trotzdem zustimmen). Leute, findet einen Kompromiss zwischen
passender Sicherheitskleidung, Risikobereitschaft und den Beduerfnissen eurer
Umwelt. Seid auf alles gefasst, was andere Verkehrsteilnehmer machen. Fahrt
Sonntagnachmittags und nach einem gutem Essen besonders vorsichtig. Und die,
die sich beim Fahren einer Linkskurve einen Dreck um den Gegenverkehr scheren,
koennen mir vielleicht de Frage beantworten: "Was sagt man einem, der im
Rollstuhl sitzt, weil er MR-gefahren ist, wenn man selber weiterhin MR-faehrt?
Ich werde meinen Nachbar mal fuers Netz begeistern. Solange er noch
nichts von dieser Newsgroup weis, werde ich fuer ihn den Kurier spielen.
Gruss Loye
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